Der Asymmetrisch Tonische Nackenreflex (ATNR) ist ein frรผhkindlicher Reflex, der durch die Drehung des Kopfes zur Seite ausgelรถst wird. Er verbindet die Kopfbewegung mit einer automatischen Streckung und Beugung der Arme und Beine โ und legt so den Grundstein fรผr die Hand-Auge-Koordination, die bilaterale Integration und erste Schreibbewegungen.
Inhalt
Reflexmuster
Das Reflexmuster des Asymmetrisch Tonischen Nackenreflexes (ATNR) zeigt sich deutlich, wenn der Kopf eines Babys zur Seite gedreht wird: Arm und Bein auf der Gesichtsseite strecken sich, wรคhrend sich die gegenรผberliegenden Gliedmaรen beugen. Diese typische โFechterhaltungโ verbindet Kopfbewegung mit Kรถrperreaktion โ ein wichtiger Schritt in der frรผhen Bewegungsentwicklung.
Der ATNR entsteht bereits im ersten Schwangerschaftsdrittel und spielt auch bei der Geburt eine aktive Rolle: Durch die Wehen wird er vollstรคndig ausgelรถst und unterstรผtzt das Baby, im Rhythmus der Mutter bei der Geburt mitzuhelfen. Die vollstรคndige Integration erfolgt idealerweise zwischen dem 6. und 9. Lebensmonat โ sobald das Baby beginnt, beide Kรถrperhรคlften gezielt zu koordinieren, etwa beim Krabbeln oder gezielten Greifen. Dann erst kann das Kind beginnen, seine Bewegungen gezielt zu steuern โ unabhรคngig von der Kopfhaltung.
Bedeutung fรผr die Entwicklung
Der ATNR spielt eine entscheidende Rolle in der frรผhkindlichen Entwicklung, da er eng mit der motorischen Koordination und der sensorischen Integration verbunden ist. Seine Hauptaufgabe ist es, die Muskelspannung im Kรถrper รผber die Kopfhaltung zu regulieren. Das macht ihn zu einem Schlรผsselfaktor fรผr die spรคtere Auge-Kopf-Hand-Koordination โ und damit fรผr feinmotorische Tรคtigkeiten wie Schreiben, Malen oder Basteln.
Auch frรผhe Rollbewegungen (vom Rรผcken auf den Bauch und zurรผck) werden durch den ATNR mitgesteuert. Ist das Reflexmuster gut integriert, gelingt das Rollen in beide Richtungen. Bleibt der ATNR aktiv, zeigt sich hรคufig eine Einseitigkeit der Bewegung โ oder das Rollen wird ganz ausgelassen.
Wรคhrend das Baby seinen Kopf dreht, entstehen automatische Bewegungsmuster, die wichtige neuronale Verbindungen aufbauen โ insbesondere zwischen beiden Gehirnhรคlften. Diese Verknรผpfungen bilden die Grundlage fรผr viele spรคtere Fรคhigkeiten:

- Auge-Hand-Koordination: Der Reflex verbindet Blickrichtung mit Handbewegung โ eine wichtige Voraussetzung fรผr gezieltes Greifen, Werfen und spรคter das Schreiben.
- Vorbereitung auf das Krabbeln: Durch die seitliche Streck- und Beugebewegung trainiert der ATNR die Basis fรผr Kreuzmusterbewegungen.
- Bilaterale Integration: Er unterstรผtzt die Fรคhigkeit, beide Kรถrperseiten unabhรคngig und gleichzeitig zu steuern โ wichtig fรผr Sport, Tanzen und Alltagshandlungen.
- Entwicklung von Seitenprรคferenz: Der ATNR hilft dem Kind, eine dominante Hand oder Kรถrperseite zu entwickeln.
- Sensorische Integration: Durch das Zusammenspiel von Bewegung, Sehen und Hรถren fรถrdert der Reflex Gleichgewicht, rรคumliche Orientierung, binaurales Hรถren und binokulares Sehen.
- Kognitive Entwicklung: Die bewusste Koordination von Bewegungen bildet die Grundlage fรผr Konzentration, Schreiben und strukturiertes Denken.
- Myelinisierung des Corpus Callosum: Der Reflex stimuliert die Verbindung zwischen linker und rechter Gehirnhรคlfte โ entscheidend fรผr die Reizweiterleitung und die Effizienz des Nervensystems.
Fehlt diese frรผhe Koordination, kann sich das spรคter in Lern-, Bewegungs- oder Verhaltensauffรคlligkeiten zeigen โ oft ohne dass der Zusammenhang sofort erkannt wird.
Was passiert bei Restaktivitรคt (nicht integrierter Reflex)?
Bleibt der ATNR รผber das Kleinkindalter hinaus aktiv, wirkt er unbewusst bei jeder Kopfdrehung auf die Kรถrperhaltung und Muskelspannung ein. Das bedeutet: Das Nervensystem reagiert auf Bewegungen weiterhin mit einem automatischen Muster โ obwohl das Kind eigentlich bereits willkรผrlich handeln sollte.
Die Folge ist eine stรคndige innere Ablenkung, weil der Kรถrper gleichzeitig versucht, alltรคgliche Aufgaben zu bewรคltigen und dabei die Reflexantwort zu kompensieren. Das kostet Kraft, Aufmerksamkeit und emotionale Stabilitรคt.
Ein restaktiver ATNR kann zu:
- motorischer Unruhe oder Verkrampfung,
- koordinativen Problemen,
- visuellen Irritationen,
- oder auch emotionaler Anspannung und รngstlichkeit fรผhren.
Gerade beim Lesen, Schreiben oder Konzentrieren macht sich das besonders bemerkbar โ Aufgaben, die eigentlich bewusst gesteuert werden sollten, geraten durch den aktiven Reflex unbewusst โaus dem Gleichgewichtโ.
Die betroffenen Kinder spรผren: โIrgendetwas fรผhlt sich stรคndig anstrengend an.โ Und genau das zeigt sich dann oft in einer Vielzahl von typischen Anzeichen bei Restaktivitรคt.
Typische Anzeichen bei Restaktivitรคt
Bei nahezu jedem Kind, bei dem eine Lese-Rechtschreib-Schwรคche (LRS) oder Legasthenie festgestellt wird, zeigt sich eine Restaktivitรคt des ATNR. Das verdeutlicht, wie stark dieser frรผhkindliche Reflex mit schulischen Herausforderungen โ insbesondere beim Lesen, Schreiben und Konzentrieren โ verbunden ist.
Ein aktiver ATNR ist kein Zeichen fรผr mangelnde Intelligenz oder Faulheit, sondern fรผr eine neurologische Unreife, die sich durch gezielte Bewegungsangebote nachreifen lรคsst.
Lernen & Aufmerksamkeit
- Schreibprobleme: verkrampfte oder instabile Stifthaltung, langsames oder unleserliches Schreiben, Papier wird schrรคg gehalten.
- Schriftbild verรคndert sich ab der Blattmitte: Zeilen kippen nach unten, die Schrift wird kleiner.
- Leseschwierigkeiten: Zeilen werden รผbersprungen, verlangsamt oder stockendes Lesen, Schwierigkeiten beim Verfolgen der Zeile, hรคufiges Verlieren der Position im Text. Verwechslung von Buchstaben, insbesondere solcher, die eine Drehung oder Spiegelung erfordern (z. B. b/d, p/q).
- Kopfdrehung fรผhrt zu Verlust der Zeilenfรผhrung beim Lesen.
- Rechtschreibprobleme: Schwierigkeiten beim Schreiben in geraden Linien, ungleichmรครige Wortabstรคnde, Buchstabenverdrehungen und ~auslassungen, Schwierigkeiten bei der Laut-Buchstaben-Zuordnung.
- Fehlerhรคufung rund um die Blattmitte: Bei Schreib- oder Leseaufgaben treten in der Mitte des Blattes deutlich mehr Fehler auf โ oft unbewusst verursacht durch die verstรคrkte Aktivitรคt des ATNR bei mittiger Kopfhaltung.
- Buchstaben kippen in unterschiedliche Richtungen, besonders bei lรคngerem Schreiben.
- Mathematikschwรคche: Schwierigkeiten bei der rรคumlichen Anordnung von Zahlen, Probleme beim Stellenwertverstรคndnis, Verwechslung von รคhnlichen Ziffern (z. B. 6/9, 3/8), Probleme bei der schriftlichen Addition und Subtraktion, insbesondere beim รbertragen von Zahlen.
- Aufmerksamkeitsprobleme: schnelle Ablenkbarkeit, geringe Ausdauer, Schwierigkeiten beim Wechsel zwischen Aufgaben.
- Konzentriertes, sauberes Arbeiten รผber einen lรคngeren Zeitraum ist nicht mรถglich โ die Anstrengung ist zu groร.
- Gedรคchtnisschwรคche: beeintrรคchtigtes Kurzzeit- oder Arbeitsgedรคchtnis.
- Wechselnde Hรคndigkeit: Unsicherheit bei der Dominanz kann zu Verwirrung fรผhren.
- Kinder kompensieren mit Kopf- oder Oberkรถrperverdrehung, um mit der dominanten Hand bis zur gegenรผberliegenden Blattseite zu kommen.
- Hinwendungsbewegungen starten oft รผber den Kopf, nicht รผber die Augen โ ein Zeichen fรผr mangelnde visuelle Kontrolle.
Motorik & Kรถrperhaltung
- Das Kind krabbelt nicht oder nur wenig, rutscht stattdessen auf dem Po oder nutzt den Bรคrengang.
- Es รผberspringt wichtige Entwicklungsschritte und richtet sich zu frรผh auf โ das kann langfristig Folgen fรผr Haltung und Stabilitรคt haben.
- Unkoordinierte Bewegungen: Schwierigkeiten beim รberkreuzen der Kรถrpermitte, homolaterale Muster (Bewegung auf einer Kรถrperseite).
- Koordinierte Bewegungen wie Tanzen, Radfahren oder Jonglieren bereiten groรe Mรผhe โ Kreuzmusterbewegungen fallen schwer.
- Kinder stoรen sich hรคufig, stolpern leicht oder wirken insgesamt โungeschicktโ.
- Beim Sitzen wird oft ein Bein untergeschlagen, um die Reflexaktivitรคt unbewusst zu blockieren โ das kann auf Dauer zu Fehlhaltungen und chronischen Verspannungen fรผhren.
- Instabile Haltung: schiefe oder verdrehte Sitzposition, โum den Stuhl gewickeltโ.
- Schwierigkeiten bei Gleichgewicht und Orientierung, besonders bei Kopfdrehung.
- Visuelle Probleme: eingeschrรคnkter Blickwechsel zwischen Nah- und Fernsicht, Fokus oft nur auf Armlรคnge.
- Beeintrรคchtigte Hand-Auge-Koordination, z.โฏB. beim Ballspielen, Schneiden, Basteln.
- Raumorientierung: Probleme mit spiegelverkehrtem Schreiben oder Platzierung von Zahlen im Rechenformat.
Emotional & sozial
- Chronische innere Anspannung: Der ATNR gilt als einer der Reflexe, die mit dem frรผhkindlichen Schutzmechanismus vor Gefahr verbunden sind. Wenn er nicht vollstรคndig integriert ist, kann das Nervensystem in einem unterschwelligen Alarmmodus bleiben โ ohne echte Bedrohung, aber mit echter Stressreaktion.
- Verstรคrkte รngstlichkeit: Kinder mit aktivem ATNR wirken oft รผbervorsichtig, zurรผckhaltend oder gereizt โ besonders in neuen oder ungewohnten Situationen. Der Kรถrper meldet: โIch bin nicht sicherโ, obwohl objektiv kein Grund zur Angst besteht.
- Emotionale Reaktionen auf kรถrperliche Anforderungen: Schon das Drehen des Kopfes beim Schreiben oder der Blickwechsel beim Lesen kann unbewusst Stress erzeugen โ was sich in Vermeidung, Frust oder plรถtzlichem Rรผckzug zeigen kann.
- Unsicherheit im sozialen Kontakt: Kinder fรผhlen sich schnell รผberfordert, ziehen sich zurรผck oder reagieren impulsiv โ nicht, weil sie โschwierigโ sind, sondern weil ihr Nervensystem stรคndig damit beschรคftigt ist, eine alte Schutzreaktion zu kompensieren.
- Selbstwertprobleme: Wenn alltรคgliche Dinge wie Schreiben, Lesen oder sportliche Aufgaben immer wieder misslingen, obwohl sich das Kind anstrengt, kann das langfristig zu einem niedrigen Selbstbild und Resignation fรผhren.
Die beschriebenen motorischen und kognitiven Herausforderungen erzeugen bei den betroffenen Kindern hรคufig Frustration, Rรผckzug oder Unsicherheit. Sie spรผren, dass ihnen alltรคgliche Aufgaben schwerer fallen โ ohne zu verstehen, warum. Das kann ihr Selbstvertrauen stark belasten.