“Ich komme gleich!” “Bin gleich soweit.” oder “Das dauert noch ungefähr 10 Minuten.” – und dann schaust du das nächste Mal auf die Uhr und stellst fest, das mehr als eine halbe Stunde vergangen ist seither. Dein Partner ist genervt, dein Chef reagiert sauer und du selbst wunderst dich, wohin die Zeit verflogen ist. Mal wieder.
Oder dein Kind schaut „nur noch ein Video“.
Dann noch eins.
Dann noch eins.
Und plötzlich ist der Nachmittag vorbei.
Solche Situationen sind typisch für Menschen mit Zeitblindheit – einem Phänomen, das vor allem bei ADHS häufig vorkommt. Und auch wenn es oft so wirkt: Zeitblindheit hat nichts mit Faulheit, Egoismus oder Desorganisation zu tun. Sie ist neurobiologisch bedingt – und für Betroffene nicht willentlich steuerbar.
Statt also immer wieder neue Strategien zu entwickeln, um irgendwie besser klarzukommen, lohnt sich ein Blick an die Wurzel:
👉 Woher kommt Zeitblindheit wirklich?
👉 Und was, wenn sie sich dauerhaft verändern ließe?
Das erwartet dich in diesem Beitrag
Was ist Zeitblindheit?
Zeitblindheit ist ein Begriff aus der ADHS-Forschung und beschreibt Schwierigkeiten in der zeitlichen Selbstorganisation:
- Menschen mit Zeitblindheit unterschätzen oder überschätzen, wie viel Zeit etwas dauert.
- Sie haben Mühe, sich an Deadlines zu halten – selbst wenn sie motiviert sind.
- Sie leben häufig im „Jetzt“, was Planen oder Priorisieren schwer macht.
- Zukünftige Ereignisse fühlen sich „nicht real“ an – oder erst dann, wenn es fast zu spät ist.
Diese Form der Desorientierung ist nicht willentlich steuerbar, sondern neurobiologisch bedingt. Es fehlt an der inneren Uhr, die viele andere Menschen „automatisch“ nutzen können.
Wie zeigt sich Zeitblindheit im Alltag?
Zeitblindheit betrifft nicht nur das Zeitmanagement – sie zieht sich durch viele Bereiche des Lebens. Hier ein paar typische Situationen, die du vielleicht kennst:
Bei Kindern mit ADHS
- Morgens rechtzeitig aus dem Haus kommen? Kaum möglich.
Das Kind vertrödelt sich beim Anziehen, spielt mit dem Reißverschluss, bleibt mit dem Zahnbürstchen minutenlang vorm Spiegel stehen. Es merkt einfach nicht, dass die Zeit davonläuft – selbst wenn alle schon rufen: „Beeil dich!“ - Hausaufgaben werden aufgeschoben – aber nicht absichtlich.
Auch wenn die Aufgaben längst notiert sind: Solange keine Konsequenz spürbar ist, fehlt das Gefühl von Dringlichkeit. Es wirkt nicht „jetzt wichtig“ – also wird es vertagt. - Verloren in Spielen oder YouTube-Videos
Ein Video, noch eins, dann noch eins… Und plötzlich ist der Nachmittag rum. Die Zeit entgleitet – nicht, weil es dem Kind egal ist, sondern weil die innere Uhr nicht mitläuft.
Und später? Zeitblindheit verschwindet nicht einfach mit dem Älterwerden – sie zeigt sich in der Jugend nur anders.
Bei Jugendlichen
- Lernen? Ja, später.
Der Prüfungsstoff ist nicht das Problem – das Zeitgefühl schon. Der Horizont verschwimmt. Erst am Abend vor der Prüfung kippt die Stimmung in Panik – weil es dann plötzlich „real“ wird. - Zeiträume einzuschätzen fällt schwer.
Eine Stunde fühlt sich an wie zehn Minuten – oder umgekehrt. Das sorgt für Konflikte („Ich war doch gar nicht so lange am Handy!“) und Frust auf allen Seiten. - Komplexe Aufgaben überfordern.
Ein Referat? Ein Projekt? Klingt nach einem Riesenberg. Es fehlt das innere Gefühl für: Was muss ich wann tun? Und ehe man sich versieht, ist die Deadline da – und es wurde nie damit begonnen.
Und im Erwachsenenalter?
Auch viele Erwachsene kämpfen weiter mit Zeitblindheit – oft, ohne den Begriff überhaupt zu kennen. Was bleibt, ist das Gefühl, sich ständig selbst im Weg zu stehen.
- Unpünktlichkeit – trotz bester Absicht
Sie starten zu spät, unterschätzen die Fahrzeit – und sind ehrlich überrascht, dass sie zu spät kommen. „Ich dachte, ich hätte noch genug Zeit“ ist keine Ausrede, sondern das echte Empfinden. - Verzettelung im Alltag
Eigentlich wollten sie nur kurz aufräumen – dann finden sie ein altes Fotoalbum, blättern ein paar Seiten, schwelgen in Erinnerungen. Und plötzlich ist der Nachmittag vorbei. Der Einkauf? Nicht erledigt. - Schwierigkeiten mit Prioritäten
Steuererklärung oder Schublade aufräumen? Die Wahl fällt nicht unbedingt auf das Dringende. Was keine akute emotionale Relevanz hat, rutscht nach hinten – bis der Brief vom Finanzamt kommt. - Vergessen von Terminen
Nicht, weil sie unwichtig sind – sondern weil sie im Moment keine emotionale Bedeutung haben. Die Zukunft fühlt sich nicht „real“ an – also fehlt auch das innere Signal, sich vorzubereiten. - Schwierigkeiten, die Dauer von Aufgaben realistisch einzuschätzen.
Du weißt, was zu tun ist. Du kennst die einzelnen Schritte. Aber wie lange das dauert? Das bleibt diffus. Fünf Minuten reichen doch für die Mails, oder? Die Steuer mach ich später – dauert ja nicht so lang.
Und dann vergehen zwei Stunden, oder du kommst gar nicht erst in Gang, weil du die Zeitspanne völlig unterschätzt (oder überschätzt). Das führt zu Frust – und oft auch zu Schuldgefühlen.
Was all diese Situationen gemeinsam haben:
Es fehlt die zeitliche Selbstverankerung: Was ist jetzt, was ist später, wie hängen Aufgaben zeitlich zusammen?
Viele Betroffene können keine „mentale Zeitlinie“ bilden. Die Vergangenheit wirkt verschwommen, die Zukunft ist nicht greifbar – sie bleibt abstrakt, bis sie fast vor der Tür steht.
Das Gehirn reagiert auf den aktuellen Reiz – nicht auf Pläne, nicht auf Vorstellungen. Und das macht Alltagsstruktur zur echten Herausforderung.
Was das innerlich mit Betroffenen macht
Solche Schwierigkeiten im Umgang mit Zeit bleiben nicht ohne Folgen. Immer wieder zu spät kommen. Termine vergessen. Deadlines reißen. Sich verzetteln, obwohl man es besser weiß.
Das hat nicht nur organisatorische, sondern auch emotionale Konsequenzen:
🔸 Konflikte mit anderen
🔸 Missverständnisse („Der macht das doch extra…“)
🔸 Schuldgefühle
🔸 Ein dauerhaft schlechtes Gewissen
Viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene entwickeln daraus ein tiefes Gefühl von:
„Ich bin nicht gut genug.“
„Mit mir stimmt etwas nicht.“
„Ich krieg mein Leben nicht geregelt – obwohl ich es will.“
Und das nagt. Am Selbstwert. An der Beziehung zu sich selbst – und zu anderen.
Welche Rolle spielen frühkindliche Reflexe bei dieser Form der Desorientierung – und was lässt sich verändern?
Wenn wir von Zeitblindheit sprechen, denken viele erst mal an Tools: Kalender-Apps, To-do-Listen, Erinnerungsfunktionen. Alles nützlich – keine Frage. Aber was, wenn das eigentliche Problem viel früher beginnt? Im Nervensystem?
In unserer Arbeit mit AAIM Reflexintegration begegnet uns bei ADHS-Kindern (und Erwachsenen!) immer wieder ein Muster: Frühkindliche Reflexe, die noch aktiv sind – obwohl sie längst integriert sein sollten.
Das sind ganz frühe Bewegungsmuster aus der Babyzeit. Sie helfen beim Überleben, bei der ersten Orientierung im Körper – aber sie sind nicht fürs Leben gedacht. Wenn sie bleiben, binden sie Ressourcen im Nervensystem. Und das hat Folgen. Auch für das Zeitempfinden.
Denn: Zeitgefühl entsteht nicht im Kalender. Es entsteht im Körper. In der Orientierung. In der Regulation. In der Fähigkeit, Informationen linear zu verarbeiten.
Diese frühkindlichen Reflexe, spielen besonders oft eine Rolle
1. Tonischer Labyrinth-Reflex (TLR)
Wer sich im Raum nicht sicher fühlt – also kein klares inneres „oben/unten“, „vor/zurück“ hat –, hat auch oft kein sicheres Gefühl für Zeit. Raum und Zeit sind im Gehirn eng verknüpft.
➡️ Diese Kinder (oder Erwachsenen) wirken oft „verloren“ in Aufgaben. Übergänge werden nicht gespürt. Alles verschwimmt.
2. Moro-Reflex
Das ist der Reflex, der für Alarmbereitschaft sorgt – also die alte Stressreaktion aus dem Babyalter: Reiz kommt – Körper springt an. Wenn er bleibt, steht das Nervensystem dauerhaft unter Strom.
➡️ Planung? Schwierig.
➡️ Vorausschau? Blockiert.
Was zählt, ist das Jetzt. Alles andere wirkt weit weg oder plötzlich bedrohlich.
3. Asymmetrisch-tonischer Nackenreflex (ATNR)
Klingt sperrig – ist aber wichtig. Dieser Reflex sorgt dafür, dass Bewegung auf einer Körperseite automatisch etwas auf der anderen Seite auslöst. Wenn er nicht integriert ist, kommt es zu Problemen in der Seitenkoordination – aber auch in der zeitlichen Gliederung.
➡️ Wer den ATNR noch aktiv hat, tut sich oft schwer, Dinge der Reihe nach zu tun oder Zeitabläufe zu überblicken.
4. Symmetrisch-tonischer Nackenreflex (STNR)
Auch hier geht’s um Bewegungssteuerung – und die Verbindung von Kopf und Körper. Ein nicht integrierter STNR kann zu Chaos im Raum führen – visuell und körperlich.
➡️ Diese Menschen „zerfließen“ oft in Aufgaben. Hausaufgaben wirken unüberblickbar, obwohl sie klar gegliedert sind.
5. Spinaler Galant
Dieser Reflex beeinflusst die Rumpfstabilität – und unsere Fähigkeit, Reize zu filtern.
➡️ Kinder (oder Erwachsene) mit aktivem Spinalem Galant Reflex sind häufig überreizt. Sie sind dauernd abgelenkt – und können innere Zeitdruck-Signale kaum wahrnehmen.
Und was heißt das jetzt?
Es gibt nicht den einen „Zeitreflex“. Aber es gibt viele Reflexe, die unser Zeitempfinden beeinflussen – über Umwege:
Raumgefühl, Stressregulation, sensorische Filterung, Körperorganisation.
Wenn diese Muster im Nervensystem aktiv bleiben, kostet das Energie. Energie, die fehlt – um sich selbst zu strukturieren, zu planen, zu priorisieren. Viele sagen dann: „Ich weiß doch, was ich machen muss – aber ich krieg’s nicht hin.“
Und genau da setzen wir mit der AAIM Reflexintegration an.
Was sich in der Praxis verändert
Eltern erzählen oft sowas wie:
- „Er merkt plötzlich selbst, wann’s knapp wird mit der Zeit.“
- „Sie kommt besser in den Tag – es fließt mehr.“
- „Er kann jetzt Aufgaben zu Ende bringen, ohne abzuschweifen.“
- „Früher war sie nach zehn Minuten Hausaufgaben durch den Wind – jetzt bleibt sie einfach dran.“
- „Sie kann besser einschätzen, wie lange etwas dauert – vorher hat sie sich da ständig verschätzt.“
Woran liegt das?
Weil das Nervensystem zur Ruhe kommt. Weil die Reize besser gefiltert werden. Und weil der Körper nicht mehr ständig mit etwas beschäftigt ist, das längst Vergangenheit sein sollte.
Dann entsteht etwas, das vorher gefehlt hat: Überblick. Struktur. Ein Gefühl für: „Ich weiß, was jetzt dran ist.“
Wenn Zeit endlich spürbar wird
Zeitblindheit ist kein Charakterfehler. Und auch kein Zeichen von Faulheit, mangelnder Motivation oder Disziplin.
Sie zeigt, dass das Nervensystem oft mit Dingen beschäftigt ist, die unter der Oberfläche liegen – alten Mustern, die nie ganz abgeschlossen wurden.
Das kann belastend sein. Es führt zu Frust, zu Selbstzweifeln, zu Konflikten – obwohl der Wille da ist, es „besser“ zu machen.
Die gute Nachricht: Mit AAIM Reflexintegration lässt sich hier eine echte Brücke bauen. Zwischen Reiz und Reaktion. Zwischen Chaos und Struktur. Zwischen Wissen und Handeln.
Wenn das Nervensystem entlastet wird, entsteht wieder Spielraum. Für mehr Selbstwahrnehmung, bessere Einschätzung von Zeit und mehr innere Ordnung im Alltag. Ein Körper, der nicht ständig im Alarmmodus läuft, kann sich wieder orientieren – im Raum, in der Aufgabe, im Tag.
Und viele erleben zum ersten Mal das Gefühl: „Ich weiß, was jetzt dran ist – und ich krieg das hin.“
Weiterführende Beiträge
- Wege aus dem Burnout – Was mir geholfen hat, meine Erschöpfung zu durchbrechen
- Moro Reflex – der ursprüngliche Überlebensreflex
- Tonischer Labyrinth-Reflex (TLR) – Balance zwischen Beugung und Streckung
- Asymmetrisch Tonischer Nacken-Reflex (ATNR) – Wenn Schreiben, Sehen und Koordination aus dem Gleichgewicht geraten